Beitrag von Julia Engelmann
aus "Eines Tages, Baby"
Poetry-Slam-Texte,
zum Anhören und Ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=LjwlZ4wF5wY
Ich habe keine bessere Hälfte und keine Schokoladenseite.
Ich hab' keine Macht, kein Titel, kein Tattoo und keine Lieblingskneipe.
Ich hab' kein gutes Bauchgefühl, weil ich's oft mit Hunger verwechsel'
und kein gutes Ordnungsempfinden, obwohl ich Ordnung sehr schätze.
Ich hab' mich nie getraut beim Flaschendrehen, die Flasche zu drehen.
Ich hab' noch nie Sternschnuppen, nie Glühwürmchen und nie Titanic gesehen.
Und ich hab' kein SWAG und kein Six-Pack, kein Nickname, kein Big Mac,
keine Gang, keine Bigband, kein Basecap, kein Whatsapp.
Ich hab' keine Straße, kein Bezirk und auch sonst keinen Block,
bin nicht bei Youtube, nicht bei Twitter, hab' auch sonst nie gevloggt, hab' kein Talent
im Maindroppen, nicht im Partyhoppen, nicht im Smalltalken, nicht im Moonwalken.
Ich hab' kein Style und kein Markenzeichen,kein Look und kein X-Factor
und ich hab' auch kein Problem damit, weil's bloß ein Wort ist, mit 'nem X davor.
Mein Facebook liest sich nicht wie die Chronik von Narnia.
Ich hab' kein Plan von der Liebe und keine Ahnung von Karma.
Ich hab' keine schöne Handschrift, keine Super-, keine Zauberkraft.
Ich hab' nicht the moves like jagger und in keinem Club 'ne Mitgliedschaft.
Ich hab' Angst, ich hab Angst vor falschen Entscheidungen und davor, mich nicht zu entscheiden.
Ich hab Angst irgendwo weg zu gehen und mir eigentlich wünschen zu bleiben.
Ich hab' Angst, Fehler zu machen, auch wenn ich weiß, dass sie wichtig sind.
Ich hab' Angst zu spät zu merken, welche Wege doch richtig sind.
Ich hab' Angst davor, wie schnell Zeit vergeht und dass ich sie nicht richtig nutze.
Ich hab' Angst, dass ich nicht alles umsetzen kann, was mir eigentlich lange bewusst ist.
Ich hab Angst, dass ich nie eine so gute Mutter, wie meine, werde.
Ich hab' Angst, dass es Dinge gibt, die, obwohl ich das weiß, niemals lerne.
Ich hab' Angst, ich selber zu sein und dass das nicht ausreicht.
Ich hab' Angst so viel zu verpassen, ich sag zu oft „vielleicht" und manchmal hab' ich Angst,
dass ich im Zug keinen Platz kriege oder mein Ticket verliere.
Ich hab' Angst, dass ich Angst viel zu wichtig nehme oder vielleicht falsch definiere.
Ich hab' Angst, dass ich vom ganzen Nachdenken irgendwann heimlich, still und leise implodiere
und in Tausend Stücke zerspillter.
Aber wenigstens habe ich keine Angst vorm Fliegen, noch vor Zombies und auch nicht vor Gewitter
und ich hab' Luxusprobleme.
Manchmal will ich Zähne putzen und dann ist meine Zahnpasta leer
und manchmal hab' ich Bock auf Nudeln und bei Rewe ist die Pasta schon leer.
Manchmal kann ich mich nicht entscheiden zwischen Kaffee und Tee
und manchmal hab' ich Bauch- oder Kopf- oder Heim- oder Zahn- oder auch Hals- oder Fernweh.
Und manchmal hab' ich
das Gefühl, dass andere besser sind als ich, dann muss ich überrascht feststellen,
dass alte Menschen weiser, Millionäre reicher, Luft leichter und luftiger, Äpfel reifer und fruchtiger,
Einhörner flauschiger, dass Meer viel berauschender, Kleber krasser und klebriger, Gewässer nasser
und ewiger sind, als ich.
Und manchmal muss ich feststellen, dass ich dich lieber mag als du mich.
Ich hab' so viele Dinge, viel mehr als ich eigentlich er- und vertrage.
Ich hab' so viele Klamotten und Schmuck und Gedöns, viel mehr als ich eigentlich trage.
Ich hab' ein Einrad und ein Skateboard, das ich eigentlich nicht fahre.
Und ich hab' Augen, die alles das, was ich
betrachte, auch tatsächlich sehen.
Ich hab' Beine, die manchmal stehen oder tanzen oder sitzen oder tatkräftig gehen.
Ich hab' Ohren, die alles das, was du sagst, wörtlich verstehen und manchmal auch das,
was du eigentlich meinst.
Ich hab' Empathie, die mir weh tut, wenn irgendwer weint
und ich hab' Arme und Hände, die Dinge halten können und dich.
Ich hab' eine Mimik aus Muskeln und Fältchen und
Haut im Gesicht.
Ich hab' ein Herz, das ich zu selten auf der Zunge trage, aus Angst, dass ich's verschluck.
Ich hab' ein Lächeln, dass ziemlich gut funktioniert, aber dass ich selten benutze.
Und ich hab' Freunde und Träume, meine Stimme und Sinne.
Ich hab' so viele Ideen, ich hab' so viel zu geben, ich hab' so viel zu
erleben, so viel zu erleben.
Ich hab' Fragen, die offen sind und Haare, die offen sind.
Ich hab' Tränen, die Tropfen sind und ziemlich schnell trocken sind.
Ich hab' sicherlich nicht all zu viel, aber doch ein bisschen Wissen.
Ich hab' ein Gehirn mit Synapsen, die sich stündlich verknüpfen.
Ich hab' Erinnerungen. Erinnerungen, von denen mir noch
Ernte verbleibt.
Ich hab' meine Meinung, Gefühle und Werte und Zeit
und ich hab' Vertrauen. Vertrauen darin, dass Zeit Wunden heilt und Vertrauen in mich.
Vertrauen daran, dass alles gut wird und in das Leben an sich
und ich hab' mein Leben, das endlich ist und nicht selbstverständlich ist.
Vielleicht nur eine Seele, die ewig beständig ist, auch wenn der Gedanke daran
für mich sehr befremdlich ist und ich hab' noch was, das vergess' ich oft, dann muss ich mich neu
besinnen, ich hab' nicht und nichts zu verlieren, sondern so viel zu gewinnen.
Ich hab' tausend
Gründe zu Lachen und bloß einen zum Weinen
und vor allem habe ich einen Grund glücklich zu sein.
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